Author:
Prof. Dr. Thomas Geisen | Hochschule für Soziale Arbeit FHNW | Switzerland
In Gesellschaften, die mit dem Phänomen anhaltender kultureller Differenzen zwischen Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft konfrontiert sind, stellen sich politische Herausforderungen, deren Bearbeitung von Hall als "Multikulturalismus" bezeichnet wird. Dieser umfasst "Strategien und Politiken, die angewendet werden, um die Probleme der Vielfalt und Differenz zu regulieren, die multikulturelle Gesellschaften aufwerfen" (Hall 2004, S. 188). Castles und Davidson verweisen darauf, dass die Politik des Multikulturalismus in den 1970er Jahren entstanden ist, als Einwanderungsländer "with a considerable time-lag and resistance" begannen, "to adapt their policies and state structures to such realities" (Castles/Davidson 2000, S. 159). Einige Länder förderten die Idee des Multikulturalismus "in place of the notion that all newcomers schould join the majority national culture. Australia and Canada have gone furthest in developing multicultural institutions and policies, but debates on multiculturalism are taking place in many immigration countries" (Castles/Davidson 2000, S. 159). Für sie ist das Auftreten des Multikulturalismus mit sozialstaatlichen Krisentstrategien verbunden, "which seek to secure integration and cohesion of the whole population (including minorities) through social policy measures. In contrast, countries with weak welfare states (for example, Switzerland) reject multicultural policies" (Castles/Davidson 2000, S. 160). Beim Multikulturalismus handelt es sich also um ein "politsches Konzept", das auf gesellschaftliche Pluralität reagiert (Rommelspacher 2002, S. 175). Ebenso wie es multikulturelle Gesellschaften im Plural gibt, so handelt es sich beim Multikulturalismus allerdings nicht um eine einheitliche "politische Doktrin", sondern vielmehr um eine "ganze Vielfalt politischer Strategien und Prozesse, die überall lückenhaft sind" (Hall 2004, S. 189). Grundsätzlich kann zwischen einem konservativen, liberalen und kritischen Multikulturalismus unterschieden werden (Rommelspacher 2002, S. 179) [weitere Literatur]. Weitergehende Differenzierungen finden sich bei Hall, der zwischen (1) dem konservativen, an Assimilation orientierten Multikulturalismus; (2) dem an Bürgerschaft orientierten liberalen Multikulturalismus, der bestimmte kulturelle Praxen nur im Privaten toleriert und um Integration in den Mainstream bemüht ist; (3) dem pluralistischen Multikulturalismus, der verschiedenen Gruppenrechte innerhalb einer kommunitaristischen politischen Ordnung gewährt; (4) dem kommerziellen Multikulturalismus, bei dem der Ausgleich der verschiedenen, kulturellen Interessen in erster Linie über den Markt durch Konsumtion erfolgt, ohne dass Macht und Ressourcen umverteilt werden müssen; (5) dem korporativen Multikulturalismus, der bestrebt ist kulturelle Differenzen zu managen, auch hier ohne Umverteilung von Macht und Ressourcen; und (6) dem kritischen oder revolutionären Multikulturalismus, der "Macht, Privilegien, die Hierarchie der Unterdrückungen und die Widerstandsbewegungen" in den Vordergrund stellt (vgl. Hall 2004, S. 189f.). Im Postkolonialismus wird dieser Zusammenhang als "Multikulturalismus der underclass" charakterisiert (Spivak 2014, S. 310).
Die Vielfalt des Multikulturalismus und des Multikulturellen verweisen darauf, dass sie jeweils mit unterschiedlichen sozialen Praxen und Positionierungen verknüpft sind. Seine gesellschaftliche Bedeutung hängt stark "von den Vorstellungen vom gesellschaftlichen Zusammenleben ab und davon, welcher Stellenwert dabei der kulturellen Zugehörigkeit gegeben wird" (Rommelspacher 2002, S. 179). Von besonderer Bedeutung ist dabei die Unterscheidung zwischen einem kulturelle Besonderheiten negierenden Universalismus und einem eben diese hervorhebenden Partikularismus, der sich im Multikulturalismus konkretisiert. Insbesondere seit den 1990er Jahren ist der Begriff des Multikulturalismus - insbesondere im deutschsprachigen Raum - zunehmend von einer Vielfalt von Begriffen abgelöst worden, dabei ist insbesondere der Begriff der "Integration" dominierend geworden. Vor diesem Hintergrund werden im Vortrag zunächst die verschiedenen Entwicklungslinien des Begriffs aufgezeigt. Darüber hinaus beschäftigt sich der Beitrag mit der Frage nach der aktuellen Bedeutung des Multikulturalismus in multikulturellen Gesellschaften.